ALLRAD-NEWS

Jürgen Zöllter - 4. August 2017, 12:21 Uhr - 4x4 Allrad NEUHEITEN

Die Erprobung des neuen Cayenne und das Porsche-Reinheitsgebot (Teil 2)

Porsches Beteiligung am Plattform-Sharing-Prozess des Volkswagen-Konzerns sieht so mancher Kunde kritisch. Viele klammern sich sozusagen an ein Reinheitsgebot, das heute aber nur noch für den 911er gilt. Welchen Aufwand die Entwickler betreiben, um nicht als Konfektionist von Produktentwicklungen anderer VW-Geschwister gesehen zu werden, erleben wir ein Dreiviertel Jahr vor Markteinführung bei der Erprobung des neuen Porsche Cayenne im tiefen Winter Nordkanadas.


Fortsetzung:

"Wir sind in Kanada unterwegs, um etwaige Problembereiche in extremer Kälte offenzulegen", sagt der bei Porsche für Karosseriethemen verantwortliche Stephan Lensow. Funktionieren die Türgriffe einwandfrei? Öffnet und schließt die Kühler-Jalousie hinterm Grill auch im Schneetreiben präzise? Der Verschluss des Handschuhfachs wandert auf Lensows rote Liste: Er zieht die Klappe noch nicht bündig an. Und hier und da knistert es im Gebälk. "Nur etwa 80 Prozent der Interieur-Teile entsprechen dem späteren Serienstand", entschuldigt er sich, streicht mit der Hand über den Armaturenträger und verzieht den Mund. Wir lernen, dass die rechtzeitige Verfügbarkeit von Bauteilen zu Problemzonen während der Erprobungszeit führt.

Wenn beispielsweise elektronisch gesteuerte Systeme noch nicht vollständig "bedatet" werden können, leidet deren harmonische Zusammenarbeit mit anderen Systemen. "Erprobungsalltag", kommentiert Lensow. Sagt's und drückt den Cayenne in eine Schneewehe rechts, um einem entgegen kommenden Sattelzug auszuweichen. Der schneidet rücksichtslos die Kurve. Für Sekunden blicken wir gegen eine weiße Wand, dann ein Rollsplit-Gewitter im Schneeschweif des Trucks. Erfreulicherweise hält ihm die Windschutzscheibe stand. Erprobungsalltag. Wir verstehen! Es folgt der nächste Fahrzeugtausch.

Nacheinander verkosten wir auch die beiden anderen Benziner, dann den Diesel. Das Basismodell Cayenne befeuert ein 3,0-Liter-V6-Benziner mit Monoturbo, der 250 kW/340 PS und 450 Nm bereitstellt. Er soll den Sprint von null auf 100 km/h in weniger als sechs Sekunden ermöglichen. Im Cayenne S entwickelt der modernere 2,9-Liter-V6 mit Biturbo-Aufladung und neuer Kurbelwelle 324 kW/441 PS und 550 Nm maximales Drehmoment. Gut für den klassischen Sprint auf 100 km/h in unter fünf Sekunden. Mit enormem Durchzug glänzt der 4,0-Liter-V8-Turbodiesel. Seine 900 Nm küren ihn zum Drehmoment-König der Baureihe. Er leistet 310 kW/422 PS und beschleunigt ebenfalls in weniger als fünf Sekunden auf 100 km/h.

Alle Triebwerke sind mit der sogenannten "Segelfunktion" ausgestattet. Sie regelt auf Leerlauf-Drehzahl ein, sobald der Fahrer vom Gas geht. Gibt er wieder Gas, wird auf eine der Geschwindigkeit angepasste Drehzahl hochgefahren. Die Gaswechsel erfolgen überzeugend sanft, kaum spürbar. Ein benzin-elektrischer Antrieb soll einige Monate nach Markteinführung folgen. In einem weiteren Evolutionsschritt werden die V8-Motoren mit Zylinderabschaltung ausgestattet. Auch die Effizienz im Umgang mit Treibstoff gilt als typisches Porsche-Thema.

Allen Varianten gemein ist die deutlich spitzere fahrdynamische Auslegung: Die Motoren hängen spontaner am Gas als in der aktuellen Fahrzeuggeneration, die Lenkungskennlinien aller Modelle bleiben in allen Fahrdynamik-Modi gleich, der Motorsound unter Last ist durchgehend präsenter. Wenngleich die Soundqualität des mit einem Zwei-Klappensystem ausgestatteten Cayenne Turbo gegenüber den anderen Modellen mit Ein-Klappensystem heraussticht. Und natürlich variiert die Aufbaubewegung der Karosserie bei Lastwechseln in Abhängigkeit von der Fahrwerksausstattung. Die hecklastige Antriebsauslegung aller Varianten drückt dem Cayenne den Porsche-Stempel auf.

Die Stahlbremsen des Cayenne verfügen künftig über eine Wolframcarbid-Schicht. Das sehr haltbare Material, das wir von Kugeln im Kugelschreiber kennen, kommt zwar nicht an die Qualität einer Keramikbremse heran, ist jedoch weniger verschleißanfällig als die unbeschichtete Stahlbremse. Die Entwicklungshoheit aller V8-Antriebsaggregate liege in Weissach, bestätigen die Ingenieure. Audi zeichne für die Sechszylinder verantwortlich. Alle Kraftwerke im Cayenne sind mit dem Achtgang-Automatikgetriebe "Tiptronic S" verblockt, das ZF zuliefert. Die Hinterachslenkung ist in Verbindung mit dem Luftfedersystem zu haben. Wer keinen Wert auf Luftpolster legt, fährt auf Stahlfedern, die wunschgemäß auch geregelt werden können, dann jedoch etwas mehr Gewicht auf die Waage bringen.

An den mit Anbauteilen verunstalteten Erprobungsfahrzeugen nur schwer zu erkennen ist das Make-up der neuen Cayenne-Karosserie. Mit 4,91 Meter baut diese knapp sechs Zentimeter länger und mit 1,95 Meter einen Zentimeter breiter. Und der Wagen liegt zudem einen Zentimeter tiefer über der Straße. Dass die A-Säule steiler steht als am Q7, ist ohne direkten Vergleich schwer erkennbar.

Markanter wirkt die neue Cayenne-Mimik an Front und Heck: Vorn die vier LED-Spots jedes Hauptscheinwerfers und hinten das durchgängige LED-Band zwischen den Heckleuchten. Wuchsen die Lufteinlässe vorn bereits mit dem Übergang von der ersten zur zweiten Cayenne Generation (Projektname: "Colorado"), so reißen sie auf Basis des neuen MLB ihren Schlund nochmals größer auf. Die aggressivste "Klappe" besitzt wieder der Cayenne Turbo. Er bekommt zudem einen adaptiven Heckspoiler über dem jetzt stärker gekrümmten Heckfenster. Unter Treibstoff sparenden Fahrbedingungen liegt dieser nahezu flach. Wählt man den Fahrdynamikmodus Sport Plus an, fährt der Dachspoiler aus, steht steiler an. Nochmals höher und steiler zum Fahrtwind stemmt er sich schließlich, wenn bei Geschwindigkeiten über 250 km/h eine Vollbremsung erfolgt. Dann arbeitet der Spoiler in Rennwagen-Manier als "Airbrake".

Nicht zu sehen ist der gewichtsoptimierte Materialmix der Strukturbauweise. Sie führt zu 40 bis 70 Kilo leichteren Fahrzeugen - je nach Motorisierung und bei deutlich gestiegenen Ausstattungsumfängen. Das ausgerechnet Porsche seine großen SUV auf Wunsch mit einem Offroad-Modus anbietet, verwundert den Europäer, der einen Cayenne niemals in der Kiesgrube sah. In China könnte er hilfreich sein, um im Megacity-Dschungel hohe Bordsteinkanten zu überwinden und im Umbau befindliche Straßenabschnitte, die übergangsweise gern mit Gullideckel-Landschaften im Mittelgebirgs-Format aufwarten.

Das Offroad-Dämpferprogramm kann nur in Verbindung mit der Luftfederung bestellt werden und kennt zwei Stufen. Im Hochniveau 1 hebt es die Karosserie um 25 Millimeter über Normalniveau an. Das Hochniveau 2 stemmt ihn nochmals 25 Millimeter höher und sperrt die beiden Querdifferenziale. Während Stufe 1 bis 100 km/h aktiv bleibt, springt Stufe 2 ab 30 km/h in Stufe 1 zurück. Um den Cayenne-Fahrer mit "Schlechtwegepaket" als Abenteurer einzukleiden, kann ein Unterfahrschutz vorn und hinten montiert werden. Ein vollwertiges Reserverad im Stil von Safari-Mobilen auf die Motorhaube zu montieren, sieht Porsche indes nicht vor. Wer damit liebäugelt, dürfte die Hausmacht der Fahrdynamik-Fraktion in Zuffenhausen unterschätzen, die den Cayenne doch lieber über die Nordschleife treibt als durch das Felsenmeer des Rubicon. Deshalb reicht die Kopffreiheit im neuen Cayenne für einen Rennhelm tragenden Piloten, nicht jedoch für einen mit breitkrempigem Safari-Hut.

Jürgen Zöllter / mid

Dieser Artikel aus der Kategorie 4x4 Allrad Auto NEUHEITEN wurde von Jürgen Zöllter am 04.08.2017, 12:21 Uhr veröffentlicht.